„Die Welt ist unbewohnbar“
"Ich bin gewiss nicht der Einzige, der behauptet, dass die Welt unbewohnbar geworden ist. Die Völker sind vom Wahnsinn ergriffen. Selbst die Grenzen des Schändlichen haben die Menschen überschritten. Man hat scheinbar keine Wahl mehr. Der Terror ist so allgemein geworden, dass die Sensibelsten inzwischen unfähig sind, die schreckliche Last noch weiter zu tragen, …
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Ich kann keine Zeitungen mehr lesen, ich kann keine Nachrichten mehr hören. Es erfüllt mich zu sehr mit Grauen. Aber wir sind Doppelwesen: Gleichzeitig muss ich mit Erstauen feststellen, wie sehr mich Filme, in denen Gewalt eine wichtige Rolle spielt, in ihren Bann zu schlagen vermögen. Vermutlich gibt es in mir, wie in jedem von uns, zugleich Furcht vor dem Terror und etwas wie Liebe zum Terror. Und doch, ich glaube, der Abscheu vor der Gewalt, der Ekel vor dem Verbrechen, sie sind noch vorherrschend in mir. Warum bringen die Leute sich gegenseitig um? Als würden sie nicht alle eines Tages sterben. Wenn ein Mensch einen anderen umbringt, dann ist das nicht viel anders, als würde er sich selbst umbringen. Wenn die Gewalt triumphiert, dann ist es ein Triumph der Selbstzerstörung. Dann kann die Menschheit sich eben nicht mehr selber ertragen.
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Die Ideologien, die Religionen, die Antireligionen, die philosophischen Lehren, mir scheint, sie liefern allesamt nur Vorwände für die Ausübung von Gewalt. Und diese Gewalt schießt immer über ihr Ziel hinaus.
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Die Gewalt, die wir in allen Gesellschaften wiederfinden, ist psychologisch, ist biologisch verankert. Sie ist das Erbteil eines jeden. Sie ist unerklärlich. Sie ist ein Geheimnis.
Was sollen wir tun angesichts dieses Rätsels, das uns ohnmächtig zurücklässt? Sobald ich etwas unternehmen will gegen die Gewalt, übe ich selbst Gewalt aus. Zwei Jahrhunderte der Revolutionen haben den Menschen nicht besser gemacht, den Menschen, der für den Menschen zu gefährlich ist. Seit langem wissen wir, dass der schlimmste Feind des Menschen der Mensch ist.
Angesichts dieses Grundrätsels, was können wir da noch sagen? Was können wir unternehmen? Was schreiben? Es gibt ja schon Lawinen, es gibt ja schon Milliarden von Wörtern. Welch ein Chaos!
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Ionesco Werke 6, Verlag Bertelsmann, Der fragwürdige Mensch, S. 553-555 – Anpassungen an aktuelle Rechtschreibung und leichte Veränderung der Übersetzung durch den Betreiber der Website