Die zeitlosen Beobachtungen des Guy de Maupassant
Guy de Maupassant, der große französische Erzähler des 19. Jahrhunderts, hat sich in seinen zahlreichen Novellen und Romanen intensiv der menschlichen Seele gewidmet. Er beobachtete diese in alltäglichen und auch in besonderen Situationen des Lebens. Was er sah, hat ihn zu einem Pessimisten werden lassen, daran lässt sein umfangreiches Werk keinen Zweifel. In diesem Werk schaut man inmitten poetischer Einlassungen über die Schönheit der Natur regelmäßig in die Abgründe der menschlichen Seele. Und leider muss man rund 140 Jahre später feststellen, dass Guy de Maupassant heute vergleichbare Beobachtungen machen würde. Der Mensch hat sich nicht geändert und ändert sich vermutlich bis zu seinem Ende nicht. Und diese Einsicht, das zeigte uns Guy de Maupassant immer wieder, bezieht sich nicht nur auf eindeutige Bösewichte der jeweiligen Zeit. Der sensible Erzähler zeigt uns ein breites Spektrum der Gesellschaft. Einfache und besser gestellte Menschen. Ehrbare und weniger ehrbare. Scheinheilige. Seine Befähigung zum kritischen Blick erinnert etwas an Eugène Ionescos Mut zum Zweifel. Aber während Eugène Ionesco offen hinterfragt, stellt Guy de Maupassant einfach eine Erzählung, eine Fabel in den Raum. Verband er damit die Hoffnung auf Veränderungen? Oder wollte er uns nur an seinen Beobachtungen teilhaben lassen?
Werfen wir nur kurz einen flüchtigen Blick auf die Erzählung „Boule de suif“, mit der Guy de Maupassant im Jahre 1880 mit einem Schlag berühmt wurde. Dieses Werk hat das Verhalten von vorgeblich ehrbaren und sich moralisch über andere erhebenden Menschen zum Gegenstand, die plötzlich durch eine äußere Macht Nachteile für ihr Dasein befürchten. Gemäß der Beobachtung Guy de Maupassants sieht diese Gesellschaft nicht den Anlass gegeben, gerade jetzt ihre Ehrbarkeit unter Beweis zu stellen. Nein, die in der Erzählung beschriebenen Menschen verfallen in Feigheit, Heuchelei, Opportunismus. Ihr einziges Motiv ist die Bewahrung ihrer eigenen Vorteile, die Erreichung ihrer eigenen Ziele, ihre Unversehrtheit gegenüber den neuen Machtverhältnissen. Und die Erzählung hat auf der anderen Seite auch das Verhalten von Menschen in Machtpositionen zum Gegenstand. Die Zeitlosigkeit dieser Fabel und Gesellschaftsstudie ist leider in vielen – im negativen Sinne – besonderen Momenten der Geschichte bestätigt worden. Und sie bestätigt sich auch vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges in Europa. Wer genau hinschaut, wird die Charaktere der Erzählung aus dem Jahre 1880 in den Kriegsjahren 2022/23 wiederfinden. Aber auch in friedlichen Zeiten, in scheinbar unbedeutenderen Dimensionen ist dieses menschliche Verhaltensmuster sehr häufig anzutreffen.
Man trifft immer wieder auf Zeitgenossen, die ihren grenzenlosen Optimismus auf die These stützen, alles würde im Laufe der Zeit besser. Ja, das Internet wird immer schneller, die medizinische Versorgung immer besser, das Auto immer größer etc. Diese Empfindung soll diesen Menschen auch nicht genommen werden – wenngleich weniger oberflächlich betrachtet so einige Aspekte eine andere Sprache sprechen. Bei Guy de Maupassant und Eugène Ionesco geht es jedoch im Wesentlichen um den Menschen im Allgemeinen. Und der war nie „besser“, aber auch nie „schlechter“. Überlieferungen wie jene von Guy de Maupassant vermitteln uns, dass es etwas in uns gibt, das sich offenbar nicht verändern kann, weil es Teil unseres Wesens ist. Wenn wir darüber global betrachtet mehr Bewusstsein entwickeln, können wir daraus resultierende – auch größere – Konflikte zwar nicht unbedingt vermeiden, aber wir können uns – und das zeigt uns das aktuelle Kriegsgeschehen in Europa sehr beispielhaft – weniger überraschen lassen und uns besser vorbereiten, vielleicht sogar antizipieren. Insofern sind die Beobachtungen des Guy de Maupassant nicht nur zeitlose Kunst. Sie können für Menschen auch eine Hilfe bedeuten, mit den Abgründen ihrer eigenen Natur und der Natur ihrer Mitmenschen umzugehen. Und dadurch bestünde Hoffnung, dass in Zukunft ein paar weniger jener Tränen fließen, die in „Boule de suif“ symbolhaft für das häufig stille Leid von Menschen stehen.