Eugène Ionesco über Kafkas "Die Verwandlung"
Im Gespräch mit Claude Bonnefoy wird Eugène Ionesco auf Kafka angesprochen und erklärt, was ihn an dessen Werk "Die Verwandlung" beeindruckt hat. Die zitierten Zeilen dieses Interviews sind auch heute noch bzw. wieder aktuell.
Die folgenden Worte stammen aus "Eugène Ionesco - Bekenntnisse - Nach Gesprächen aufgezeichnet von Claude Bonnefoy", 1969, S. 35/36.
Claude Bonnefoy: Und was hat Ihnen Kafka beispielsweise gegeben?
Eugène Ionesco: Ich habe Kafka verhältnismäßig spät entdeckt. Als erstes las ich "Die Verwandlung", sie hat mir einen starken Eindruck gemacht, und doch frage ich mich, ob ich sie gleich richtig verstanden habe. Ich spürte, es war etwas Schreckliches darin, etwas, das jedem von uns zustoßen kann, obwohl es in ganz irrealer Form dargestellt ist. Was mich daran so beeindruckte, war die Schuld, eine grundlose Schuld, vielleicht eine verborgene Schuld. Und gerade das, was Kafka vielleicht nicht besonders zeigen wollte: dass jeder von uns ein Ungeheuer werden kann, dass wir alle die Möglichkeit in uns tragen, ein Ungeheuer zu werden. Das Ungeheuer kann aus uns hervortreten, wir können das Gesicht des Ungeheuers haben. Das heißt, das Ungeheuerliche in uns kann die Oberhand gewinnen; die Massen, die Völker entmenschlichen sich übrigens in regelmäßigen Zeitabständen: Kriege, Progrome, Kollektivverbrechen und Raserei, Tyrannei und Unterdrückung. Dies sind nur Teilaspekte unserer Ungeheuerlichkeit, die Aspekte, die mir gerade in den Sinn kommen, weil sie heute oder in der Geschichte geläufig sind. Unsere Ungeheuerlichkeit hat unzählige Gesichter, kollektive und andere, mehr oder weniger auffallende, mehr oder weniger deutliche.
Claude Bonnefoy: Sie sagen, Kafka wollte das vielleicht nicht in erster Linie zeigen ... Auf alle Fälle sieht man klar, wie Sie Kafka verstanden haben, was Sie bei ihm gefunden haben. Wenn Sie von "Verwandlung" sprechen, schildern Sie auch die "Nashörner".
Eugène Ionesco: Tatsächlich. Auch das ist bei Kafka. Das Erwachen des Ungeheuers. Als ich Kafka las, lebte ich in einer Panik. Und auch heute noch glaube ich, dass jeder von uns unter bestimmten Umständen ein Verbrecher werden kann. Wir können nie wissen, was geschieht, wenn das Ungeheuer in uns erwacht, hervortritt. Das hat mich in große Angst versetzt.