Eugène Ionesco und die Politik
Während ich in meinen späten jugendlichen Jahren und als junger Erwachsener mit Respekt und Anerkennung auf so einige politische Akteure jener Zeit schaute, äußerte sich Eugène Ionesco etwa zur gleichen Zeit bis zu seinem Lebensende überaus negativ über die Politik und den Staat. Bis zur Jahrhundertwende hätte ich seinen Ausführungen wohl widersprochen. Mein Verständnis von Staat war von meinem Ich nicht zu trennen, sah ich mich doch als – wenn auch ein kleiner – Teil des Ganzen. Und die Ergebnisse des politischen Prozesses konnten sich sehen lassen. Seit rund zwei Jahrzehnten unterliegt der „Staat“ bzw. die „Politik“ nach meinem Ermessen einem Irrtum nach dem anderen, deren Folgen immer sichtbarer und spürbarer werden und es gibt nichts, das ich als Individuum dagegen unternehmen kann. Aus Respekt und Anerkennung der frühen Jahre ist Erstaunen und Entsetzen geworden.
Wie die folgenden Wortmeldungen von Eugène Ionesco heute einzuordnen sind, darauf geben vielleicht die Reaktionen aus der Politik auf das zunehmende Unbehagen in der Bevölkerung aufschlussreiche Hinweise. Stellt man sich den in nicht geringem Maße selbst verantworteten Problemen und den objektiv überprüfbaren Gegebenheiten oder versucht man, die zunehmende Kritik zum Schweigen zu bringen und eine eigene Version der Wahrheit zu etablieren? Sowohl die Worte des Dramatikers als auch meine eigenen Beobachtungen geben leider keinen Anlass zu allzu großen Hoffnungen.
Sehen wir uns ein paar ausgewählte Zitate von Eugène Ionesco aus verschiedenen Veröffentlichungen an. Für den größeren Zusammenhang sei auf die unter den Zitaten aufgeführten Quellen verwiesen.
Im Prinzip ist die Kultur von der Politik nicht zu trennen. Kultur, Politik, das ist unser Leben.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 29
Doch hat die Politik, die im Grunde das Wissen um unsere Beziehungen und die Kunst sie zu organisieren sein sollte, um das Leben in der Gesellschaft, das eigentliche kulturelle Leben, zu ermöglichen, heutzutage die anderen Manifestationen des Geistes überrundet.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 29
Doch die Politik … ist auf chaotische Weise zu einer Organisation um der Organisation willen geworden.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 29
Indem sie sich also übergreifend auf die andern Betätigungen des Menschen entwickelte, hat die Politik die Menschheit toll gemacht. Sie ist nur noch ein unsinniger Kampf um die Macht, sie hat alle Energien des modernen Menschen mobilisiert und monopolisiert.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 29
Der Marxismus war eine ganzheitliche Doktrin, die mittels politischen Handelns zur Befreiung von Mensch und Geist und in aller Freiheit zur philosophischen oder wissenschaftlichen Erkenntnis führen sowie der Suche nach unserm Endzweck dienlich sein sollte. Aber statt zur erhofften Befreiung ist die Politik zu fanatischer, stumpfer Bindung geworden, die jede Kritik, jede Infragestellung ablehnt.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 30
Ich frage mich, welche Erfahrung die Franzosen machen wollen, indem sie die Linke wählen. Die Leute ärmer machen? Dann hätten Neid und Rivalität ein Ende. Oder wollen sie regiert werden, um nicht mehr denken zu müssen?
– Wortmeldungen, S. 20
… und oft habe ich gedacht, dass die Politik eine zu ernste Angelegenheit sei, um sie Politikern anzuvertrauen. Wissenschaftler wissen vielleicht nicht viel, aber sie wissen immerhin ein klein wenig mehr als wir, als ich, als irgend jemand. Daran habe ich oft gedacht, aber wenn ich mir vor Augen halte, dass die größten Philosophen vor kurzem noch, wie Heidegger und andere, Nazis waren, und wenn ich sehe, wie Wissenschaftler sich der Politik andienen, frage ich mich, ob man überhaupt noch irgend jemandem etwas anvertrauen kann.
– Wortmeldungen, S. 78-79
Wenn ich jemanden nicht verstehe, dann sind das Politiker, die die Macht lieben. Ich frage mich immer wieder, was Macht eigentlich ist.
– Wortmeldungen, S. 86
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich einmal gesagt, man solle die Macht an Menschen übergeben, die die Macht nicht lieben, ja, die die Macht nicht lieben. Jeder müsste die Auffassung teilen, dass Verwalten ein öffentlicher Dienst ist, eine Art Fron, und diese Fron müsste als eine streng befristete Fronarbeit geleistet werden.
– Wortmeldungen, S. 87
Man hat oft gesagt, dass ich viel von ‚meiner‘ Angst spräche; ich glaube vielmehr, dass ich von der menschlichen Angst spreche, welche die Leute durch ungeeignete Mittel zu vertreiben versuchen, indem sie sich im grauen Alltag herumschlagen oder im Unglück, und davon, dass sie sich täuschen, da sie in der Sackgasse der Geschichte und der Politik der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Kriege eingeschlossen sind.
– „Warum ich schreibe“, S. 19
Eine geistig begründete Brüderlichkeit ist sicherer als eine auf den politischen Parteien gegründete Brüderlichkeit oder Kameradschaft.
Das Fragen ohne Antwort ist sicherer, authentischer, letztlich nützlicher als die falschen oder Teilantworten, die die Politiker uns zu geben behaupten; ...
– „Warum ich schreibe“, S. 37-39
Die Politik ist Entfremdung, sie kann nur als Reflex von Leidenschaften, die analysierbar oder auch nicht analysierbar sind, erlebt werden, von Leidenschaften, die sie beherrschen, die uns zum Hampelmann machen.
– „Warum ich schreibe“, S. 43
Nicht die Politik kann die Welt retten. Die Schriftsteller von heute, die solche Thesen vertreten, zielen daneben. Das fundamentale Problem, das der Existenz, das der nicht politischen, sondern metaphysischen Lebensumstände des Menschen, kann zwar nicht gelöst werden, trägt aber dazu bei, uns über uns selber klarzuwerden, über unsere wahre Situation; es führt uns vor Augen, was wir sind und was wir nicht sein möchten. Wir sind entfremdet, das ist sicher, aber nicht nur durch unsere Gesellschaft. Wir sind entfremdet geboren.
– „Antidotes“, S. 209
Politik trennt die Menschen, sie vereint sie nur äußerlich, sie ist ein Arm-in-Arm blinder Fanatiker (Fanatismus ist Blindheit!). Dagegen einen Kultur und Kunst uns alle im Bewusstsein unserer gemeinsamen Angst, die unsere einzig mögliche Brüderlichkeit darstellt, unsere existenzielle und metaphysische Gemeinschaft.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 49
Kultur ist die Entfaltung des Individuums.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 39
Der Staat ist eine enorme Maschine geworden, die das Individuum zermalmt.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 43
Ich glaube, selbst die Politiker haben Angst, und ich glaube, dass sie selbst wissen, dass alles lächerlich und letztendlich sinnlos ist.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 7
Aus Sorge um die Antipolitik habe ich selbst Politik gemacht, weil gegen die Politik zu sein zugleich bedeutet, politisch zu sein.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 9
In unserer entspiritualisierten Welt ist die Kultur noch die letzte Möglichkeit, über den Alltag hinweg zu kommen und die Menschen zu einen. Die Kultur führt die Menschen zusammen, die Politik dividiert sie auseinander.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 30
Es gibt zwei Arten von Veranlagungen: künstlerisch und wissenschaftlich. Es gibt auch eine dritte Art: politisch. Diese zählt zu keiner Kultur. Die Politiker sitzen auf ihrem Thron und sind wirklich nur für Arbeiten der dritten, weniger wichtigen Kategorie notwendig, die Küche der Gesellschaft. Sie müssten schlichtweg die Verteiler von Annehmlichkeiten sein.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 59-60
Darf ich, ein wenig an Spengler denkend, meiner Einschätzung Ausdruck verleihen, dass es heute tatsächlich um die Weltherrschaft geht. Kolonialmächte streiten sich um den Besitz der Welt. Ökonomisch oder politisch, oder militärisch, die großen Imperien besetzen, kolonisieren, reißen die Nationen an sich. Jedes Mal, versteht sich, besetzt man, um zu „befreien“. Es handelt sich durchaus um einen planetarischen Krieg der Welteroberung. Es handelt sich nicht um, ich wiederhole es, Hunger, Durst oder Gerechtigkeit, die ökonomischen Probleme ihrerseits sind sekundär. Was die Politiker der ganzen Welt antreibt ist dieser Durst nach Macht, durstiger als alle anderen Durstgefühle.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 69-70
Die politischen Führer lieben nicht die Menschen. Sie wollen sie schlichtweg zu ihren Instrumenten machen.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 71
Die Revolutionen werden nicht im Namen der Liebe entfacht. Freundschaft ist ein Begriff, den die Politik verbannt hat.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 72
Die politischen Ideologen und Politiker haben die ganze Welt toll gemacht. Alle sind krank durch Politik, Revolution, Raserei. Kaum hat eine Revolution eine zerstörte Gesellschaft in eine infernale Gesellschaft transformiert, sieht sie sich einer weiteren Revolution, einem erneuten Umsturz in dem Moment gegenüber, in dem sie weniger infernal geworden ist, nur um sie in eine wahrhaft infernale Gesellschaft zu transformieren und so weiter. Das Spiel der Revolutionen. Diese Manie ist ermüdend, ja geradezu anstrengend. Die Menschen können keinen anderen Gedanken mehr haben, festgefahren in der Politik.
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 111-112
Die Wissenschaft, die Eroberung des Weltalls, nur zwei von zehntausend anderen Dingen, die den Menschen die Augen für ihre Möglichkeiten und ihre immense Kraft öffnen müssten. Die immense Kraft der Intelligenz. Wie konnten in der gleichen Epoche … Einstein, Stalin und Hitler koexistieren? Wie konnten in unserer Epoche, in der so zahlreiche objektive Wahrheiten entdeckt wurden, sechzig Jahre der Leidenschaften und der Lüge die sowjetische Realität verstecken? Wie konnte die politische Leidenschaft nicht vom Geist der Wissenschaft pulverisiert werden? Wie kann ein Gelehrter selbst eine Leidenschaft für Macht und Politik haben und gleichzeitig eine Person sein, die Blindheit akzeptiert?
– „Der fragwürdige Mensch“, S. 134-135
Ideal gesehen sollten die Verwalter des Staates eine reine Ordnungsfunktion haben oder wie ein Computer arbeiten.
– „Für Kultur, gegen Politik“, S. 36