Grünes Nashorn in Berlin gesichtet
Wenn ich es nicht heute auf einem Foto einer großen Tageszeitung gesehen hätte, ich hätte es nicht geglaubt. Ein grünes Nashorn war in Berlin zu sehen beim freundlichen Handshake mit dem Vertreter eines der größten Unterdrückungsregimes dieses Planeten. Hinter der noch dünnen Haut des Nashorns meine ich den Menschen zu erkennen, der uns aus guten Gründen vor dem braunen Nashorn gewarnt hat, der sich doch angeblich für so viel Gutes und gegen so viel Böses einsetzt. Nun bin ich sehr verwirrt. Denn ich bin sicher, dass das braune Nashorn von dem beschriebenen Foto sehr begeistert wäre. Das braune Nashorn hätte sogar gegen vergleichbare Fotos mit dem obersten Kriegstreiber des Planeten keine Einwände. Und wo wäre der große Unterschied? Beide Unterdrücker zeigen sich regelmäßig in inniger Umarmung, in Eintracht gegen den Westen, in gemeinsamer Angst vor dem demokratischen Erwachen ihrer unterdrückten Landsleute. Es gibt wohl kaum einen Zweifel, dass China eines Tages nach Taiwan – wenn sie es könnten – auch die letzten verbliebenen Demokratien vernichten würde, um ein Wiederaufkeimen von Freiheit und Selbstbestimmung zu verhindern. Der gestrige Besucher in Berlin vertritt ein Land, das uns Deutschen vor Augen führt, was aus Deutschland ohne amerikanische Hilfe geworden wäre: Ein umfassendes Unterdrückungs- und Überwachungsregime, aus dem sich wohl kaum ein Individuum hätte befreien können.
Es gibt durchaus noch Medien, die diesen Hochverrat an unseren westlichen Werten klar ansprechen. Aber ich möchte eine regionale Zeitung zitieren, die wohl die Haltung vieler Politiker und Bürger auf den Punkt bringt: „Dennoch sind gute diplomatische Beziehungen zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt unverzichtbar.“ Anders gesprochen: Adolf Hitler hätte nur überleben und eine wichtige Volkswirtschaft anführen müssen, dann hätten wir „schöne“ Fotos von unseren „Demokraten“ mit dem „Führer“.
Die Betrachtung ist zugespitzt, aber genau das ist es, was Eugène Ionesco uns bewusst machen wollte. Die Entmenschlichung ist ein schleichender Prozess. Und es gibt wohl keinen Zweifel, dass die Verwandlung bei führenden Vertretern der aktuellen Bundesregierung im Gange ist. Das ist umso betrüblicher, als dieses Land gerade gute Argumente braucht, warum sich nicht noch mehr Menschen in braune, blaue oder rote Nashörner verwandeln sollten. Um nur zwei Beispiele aus der Tagesaktualität herauszugreifen: Wer soll die Zerstörung unserer Sprache im Namen des vermeintlich Guten noch gutheißen, wenn die Vertreter dieser Politik mit menschenverachtenden Diktatoren auf Kuschelkurs gehen? Wer soll dann bei der Migrationspolitik noch an humanistische Motive der politischen Akteure glauben?
Ich habe den Eindruck, dass wir uns national und global gesehen einer wichtigen Schwelle nähern, ab der wir entscheiden müssen zwischen Wirtschaft und Werten (bspw. Freiheit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, moralischer Anstand). Umso trauriger macht mich zu hören, dass viele Menschen in Deutschland entweder nicht mehr wissen, wem sie die heutige Freiheit zu verdanken haben, oder diese Freiheit nicht mehr schätzen, möglicherweise noch nicht einmal mehr wahrnehmen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Menschen erst merken, was sie zu verlieren hatten, wenn es nicht mehr da ist. Mehr als eine Milliarde Menschen in China haben – wenn man es überhaupt so ausdrücken darf – die Entscheidung getroffen, ihre Freiheit gegen Wohlstand einzutauschen. Werden sie diesen Kauf rückabwickeln können, wenn das „Produkt“ nicht mehr die zugesagten Eigenschaften aufweist?
Aber bauen nicht auch wir in unserem noch freien Land immer mehr Anreize ab, frei und selbstbestimmt zu leben? Mit Wehmut schaut man auf die guten Zeiten der Ordnungspolitik zurück, als Politiker noch so klug waren, nur einen politischen Rahmen zu setzen und sich aus dem Leben der Menschen ansonsten herauszuhalten. Was wir seit 10-20 Jahren erleben, ist nicht mehr entschieden auf Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ausgerichtet. Geht man diesen Schritt konsequent weiter, werden Planwirtschaft, Sozialismus und weitere historisch gescheiterte Utopien wieder zum Leben erweckt. Diese Utopien waren keineswegs Brutstätten der Menschlichkeit. Insofern sollte man die Freiheit nicht nur als von außen bedroht betrachten.
Ich treffe nicht selten auf Menschen, die zu solchen Themen eher abwinken nach dem Motto „was kann ich schon machen“. Das ist keine wirklich demokratische Haltung, denn eine Wählerstimme ist im Grunde auch nur ein Tropfen im Ozean. Ist es wirklich so, dass wir keinen Einfluss haben? Warum sollte der chinesische Diktator dann überhaupt seine oberste Marionette zu uns senden? Die Antwort könnte sein, weil er uns und ganz Europa im Moment noch braucht – als wichtigen wirtschaftlichen Baustein für seine Weltmachtfantasien. Wenn er uns eines Tages dank unserer Mithilfe nicht mehr braucht und dank unserer pazifistischen Mitbürger militärisch die Oberhand hat, dürften wir in den gleichen Folterkellern und Umerziehungslagern landen wie das Volk der Uiguren.
Ich selbst schrecke seit dem Schulterschluss zwischen China und Russland vor allen Produkten zurück, auf denen „Made in China“ steht. Aber wie viele Produkte wird es überhaupt noch geben, die für mich vollständig unbedenklich sind? Was ist an deutschen Produkten unbedenklich, wenn große deutsche Konzerne mit Diktatoren Geschäfte machen, wenn uns eine Energie- und Mobiliitätswende aus der Abhängigkeit von einer Diktatur befreit, um sie an eine noch größere Diktatur zu übergeben? Die Welt ist sehr kompliziert geworden. Es wäre doch so leicht und so schön, seinen Frieden damit zu machen, die Komplikationen einfach auszublenden, den moralischen Kompass anzupassen oder als Relikt vergangener Jahre zu betrachten. Und dennoch weigere ich mich, der Verwandlung des grünen Nashorns zu folgen. Etwas in mir sträubt sich. Und das ist vielleicht gut so.
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Literaturtipp in diesem Zusammenhang: „Ein Volk verschwindet – Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen“ (Philipp Mattheis)