Eugène Ionesco 1973: "Israel und darüber hinaus"
Eugène Ionesco hat sich am 29. Oktober 1973 in Le Figaro unter dem Titel „Israël et plus loin“ zu Wort gemeldet. Die Ausführungen sind etwas später in die Essay-Sammlung „Gegengifte“ aufgenommen worden. Ionescos Einstellung und Meinung zu Israel wird deutlich und darüber hinaus spricht er mit dem Thema Spiritualität etwas an, was heute vielleicht ein paar zusätzliche Graustufen in der Betrachtung verdient. Eugène Ionesco konnte im Jahre 1973 vielleicht nicht ahnen, wie häufig Jahrzehnte später Spiritualität noch bzw. wieder als Deckmantel für Bevormundung, Machtstreben, Unterdrückung, Gewaltausübung, Konformismus, Totalitarismus, Terrorismus dient. Eine solche Diskreditierung hat wahrhafte Spiritualität nicht verdient und erschwert in zunehmendem Maße die von Eugène Ionesco in Jerusalem erlebte friedliche Koexistenz verschiedener Glaubensrichtung, Ungläubiger und Zweifler. Was man aus den Zeilen des Essays herauslesen kann, entspricht ziemlich genau der Einschätzung von Eugène Ionesco, die er in einer Ausführung über Samuel Beckett äußerte: „Vorläufig lehrt Beckett uns aufs neue, dass der Mensch ein metaphysisches oder religiöses Tier ist. Ohne Metaphysik wären wir nichts.“
Es folgen ein paar Zitate / Passagen aus dem Essay. Für einen vollständigen Eindruck des Gesagten sei die Lektüre des Essays jedem Interessierten und/oder von der Aktualität Bewegten ans Herz gelegt. Die Übersetzung aus dem Französischen erfolgte durch den Betreiber der Website.
Israel und darüber hinaus (29.10.1973)
Es war an einem Karfreitag, am späten Nachmittag, in Jerusalem. Juden mit ihren Schläfenlocken eilen durch die abschüssigen Straßen der Altstadt, sobald der erste Stern aufleuchtet, Araber folgen dem Ruf des Muezzin, orthodoxe Christen machen sich auf den Weg zu ihren Kirchen. Sie alle eilen Seite an Seite, ohne zu drängeln, ohne Feindseligkeit.
Es ist eines der bewegendsten Schauspiele, die ich in meinem Leben je sehen konnte: das Schauspiel spirituellen Zusammenlebens in Freiheit. Ich glaube, dies ist ein weiterer Grund, die Notwendigkeit der Existenz des israelischen Staates zu rechtfertigen.
Es herrschte also ein Liberalismus, der nicht nur politisch oder ethnisch, sondern auch spirituell war. Vor mir standen die Kinder der Bibel, Brüder, die keine Feinde waren und sich nur zum Gottesdienst trennten. In den folgenden Tagen sah ich sie ohne Hass zusammenleben.
Es ist offensichtlich, dass die Israelis die Araber weder vernichten können noch wollen. Ich glaube, dass Israel das Musterbeispiel eines freien Landes ist, mit einer Regierung, einer Opposition, politischen Parteien, Gläubigen und Ungläubigen. So sieht ein wahrhaft demokratischer Staat aus. Die Versessenheit der arabischen Staaten, Israel zu vernichten, ist mir absolut unverständlich.
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Ich glaube, ich hoffe, dass diese Ur-Abscheu heute überholt ist. Denn wie soll die Zerstörung dieses Staates helfen, die ökonomischen und sozialen Probleme der arabischen Völker zu lösen? Diese schreckliche Verbissenheit ist mysteriös, rational nicht erklärbar. Die ganze Welt wünscht, dass die Araber leben. Sie sind die Erben einer großen Zivilisation.
Aber auch das Christentum kann nicht ohne das Judentum auskommen, und es ist nur gerecht, dass ein verfolgtes Volk ein Stück Land hat, um es fruchtbar zu machen und in Frieden zu leben. Aus diesem Grund wollten die Juden ihr Land: Ihnen drohte, dort einen Friedhof zu finden.
Ich habe in einer Fernsehdebatte gehört, dass dies eine nahezu biologische Ablehnungsreaktion der Araber sei. Der Herausgeber einer Wochenzeitschrift behauptete, die Israelis würden sich nicht in diesen Raum integrieren, sie seien ein europäischer, abendländischer Fremdkörper und „Kolonisator“ (ist das Bestellen des eigenen Gartens Kolonisierung?), und die Israelis hätten sich stärker orientalisieren sollen. Welch ein Irrtum! Ich glaube, die westliche Welt ist leider verloren und leider erfolgreich.
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Noch überraschender ist, dass die Freiheit des Denkens und des Geistes heute nur noch im Westen gewährleistet ist – trotz durchaus beklagenswerter Umstände und Zustände.
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Von unschätzbarem Wert ist die Tatsache, dass in Israel, obwohl nicht alle Israelis gläubig sind, Glaubensfreiheit herrscht. Ich werde mich immer an die jungen Juden aus Safed erinnern, die ich am Fenster die Tora lesen sah. Tatsächlich verbirgt sich hinter all den politischen, nationalistischen und imperialistischen Erklärungen, hinter all den Ideologien, und dieser Raserei, ein Hass auf Spiritualität.
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Zitiert aus: "Antidotes", Seite 49-52