Ionesco 1978 über Dogmatismus und Faschismus
In meiner Kindheit und Jugend begegneten mir im Wesentlichen nur zwei Faschisten, deren verheerendes Wirken Gegenstand meines Geschichtsunterrichts war. Historische Anführer aus kommunistischen Ländern beispielsweise, die ebenfalls in der Liga der Menschenrechtsverletzung und des Dogmatismus ganz weit oben mitspielten, wurden begrifflich gesondert behandelt. Wenn man sich heute umschaut und umhört, stellt sich eine gewisse Irritation ein. Faschisten scheinen überall zu sein. Der oberste Kriegstreiber unserer Zeit gibt vor, sogar ein ganzes Land voller Faschisten gefunden zu haben. Und auch unsere westliche Kultur des Mit- und Gegeneinanders scheint davon geprägt zu sein, dass der Vorwurf des Faschismus so inflationär Gebrauch findet, dass es einem entweder schwindelig wird oder man genervt abwinkt. Ist der Faschismus tatsächlich so nah oder nur eine Projektion unserer Medienwelt? Sind wir bereit und fähig zu einem nüchternen Blick ohne Rücksicht auf unsere eigenen verfestigten Überzeugungen? Vielleicht ist es insbesondere in unserem aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zustand hilfreich, Eugène Ionesco einen Moment zuzuhören, wie er sich im Gespräch mit André Coutin im Jahre 1978 zu den Themen Dogmatismus und Faschismus äußerte. Mein Eindruck ist, dass in den einfachen Worten des Dramatikers der Schlüssel zur Beseitigung einer wesentlichen Ursache politischer Fehlentwicklungen liegt.
Quelle: Wortmeldungen – Gespräche mit Eugène Ionesco, Alexander Verlag Berlin, S. 30-33
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Ionesco: Ich glaube, dieser schweigenden Mehrheit, die spricht, anzugehören, also jemand zu sein, der sich, wie Sie es nennen: widersetzt. Ich war immer versucht, gegen die öffentlichen, allgemeinen Überzeugungen zu opponieren, weil jede Überzeugung in Wahrheit eine Parole ist. Die westlichen Ideologen, die von Klassenkampf, von einer idealen Gesellschaft oder von noch präziseren politischen Dogmen sprechen, haben sich im Grunde nur die Parolen, die schon bestens ausformuliert, bedacht und verbreitet wurden, ausgeliehen. Was ich also den westlichen und französischen Ideologen vorwerfe, ist vor allen Dingen – und ich denke dabei an die Politik –, nicht aufgrund von Gegebenheiten zu urteilen, sondern ausgehend von Ideologien und Parolen. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon gesagt habe, dass ich die neuen Philosophen deshalb nur zu einem gewissen Grad schätze, weil sie auf die Behauptungen mit einer Negation antworten, statt sich der Gegebenheiten zu versichern und sie zu überprüfen. Die politischen Scheuklappen haben schließlich dazu geführt, dass man an das vom Ostblock propagierte Denksystem glaubte, ohne sich der Vorgänge hinter der Fassade zu vergewissern. Alain Besançon, ein junger Philosoph, hat gesagt, die sowjetische Gesellschaft sei eine surrealistische. In einem anderen Sinn surrealistisch als der Surrealismus Bretons: Es gab eine Basisrealität und eine Überrealität als Überbau, mit der die Realität konform zu gehen hatte. Wenn diese Realität nun nicht mit der Ideologie übereinstimmte, wurde sie einfach als konform erklärt. Das ist einer der Gründe, warum es so viele Linke gibt: Sie glaubten ohne Wenn und Aber an die Utopie und erkannten dabei die Realität der Ideologie nicht. Eine Kluft, wenn nicht ein gewaltiger Widerspruch.
Coutin: Hier sprechen wir etwas an, was man die Genese des Faschismus nennen könnte. Ob politisch rechts oder links verankert, der Faschismus geht ursächlich von einer Doktrin aus, die die Realität gewaltsam einem Dogma zu unterwerfen sucht.
Ionesco: Genau das habe ich Ihnen bisher zu sagen versucht: Faschismus ist, die Realität den Dogmen zu unterwerfen.
Coutin: Und das lässt sich selbst auf die Wissenschaften übertragen, insofern man eine biologische Doktrin aufstellen kann.
Ionesco: Ja, ich glaube, das wirklich Schlimme und absolut Bestürzende am Nazismus, am Faschismus ist, dass sich nicht nur unter dem Deckmantel methodischer Ansätze ein mehr oder weniger philosophisches Denken hat entwickeln können, sondern eine ganze Kultur verändert wurde. Dass eine Mathematik der Nazis möglich war, dass es, wie geschehen, eine Biologie der Nazis gab, eine Geschichte der Nazis. Dadurch wird die Wahrheit vollständig in Abrede gestellt, vollkommen außer acht gelassen, und es drängte sich die Frage auf, ob die Wahrheit überhaupt existiert.
Coutin: Soweit ich weiß, haben Sie frühzeitig darauf hingewiesen, dass der gleiche Vorgang sich in der Sowjetunion abzuzeichnen begann?
Ionesco: Selbstverständlich auch in der Sowjetunion. Man weiß zu gut, welche Biologie die offizielle war, eine Biologie und Vererbungstheorie beispielsweise, die sich über wissenschaftliche Beweise und Experimente hinwegsetzte und sich ausschließlich auf die Ideologie stützte, so dass man den Eindruck gewann, alles sei Chaos.
Coutin: Laut der Uraufführungskritiken nahm Ihr Stück „Die Nashörner“ auf eine gegebene Situation Bezug, nämlich die Nazifizierung. Liest man das Stück heute wieder, dann bemerkt man allerdings, dass es aufs Linksextreme passt. Das Phänomen des Totalitarismus – welchen Vorzeichens, welcher Ausrichtung auch immer –, das wir kennengelernt haben, ließ es zum Linksextremen hinüberwechseln.
Ionesco: Das ist offensichtlich.
Coutin: Ja, und es bleibt damit aktuell.
Ionesco: Angesichts der Versuchung, die Ideologie über die Erfahrung zu setzen. …
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Quelle: Wortmeldungen – Gespräche mit Eugène Ionesco, Alexander Verlag Berlin, S. 30-33