„Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.”

Quelle und weitere Zitate

Eugène Ionesco 1979: „Angst vor der Utopie“

Der Fall der Berliner Mauer vor rund 35 Jahren hat nicht wenige Menschen von einem endgültigen Ende der Utopien träumen lassen. Das war wohl nicht nur zu früh, sondern möglicherweise eine lächerliche Wunschvorstellung, wenn man betrachtet, was danach wieder aufgekeimt ist – sogar im einst vom Kollektivismus scheinbar genesenen Deutschland. Eugène Ionesco muss es schon 1979 geahnt haben. Seine folgenden Gedanken sind 1979 erstmalig in seiner Essay-Sammlung « Der fragwürdige Mensch » erschienen:

„Ich fürchte ein allgemeines Wirklichwerden der Utopie. Ich muss diesen Gedanken näher ausführen. Ich habe Angst vor der Veränderung des Menschen, vor einer Mutation der Menschheit. Es ist eine Gefahr, die ihren Ausdruck unter anderem im Gleichheitsideal findet. Das Allgemeine sollte mit dem Universellen nicht verwechselt werden. Würde sich alles im Bereich der Sozialpsychologie abspielen und diesen Bereich nicht verlassen, so ginge das noch an. Was aber zu befürchten steht, das ist die Sozialbiologie. Vielleicht werden wir, ohne dass es uns bewusst wird, der Verwirklichung eines Menschentyps entgegengetrieben, der im biologischen Sinne und nicht allein im gesellschaftlichen Sinne zum Sozialfunktionär geworden ist. Ziel aber darf nicht die Gleichheit sein, Ziel muss die Verschiedenheit, die Besonderheit sein. Vielleicht geht, ohne dass wir es wollen, die Entwicklung auf eine Vervollkommnung des Instinkts zu und eben nicht auf eine Vervollkommnung der Intelligenz. Die Intelligenz zögert, sie tastet sich vorwärts, sie muss auswählen. Der Instinkt wählt niemals aus. Vielleicht waren auch Bienen und Ameisen früher einmal intelligente Wesen, bis zu jener Zeit, als ihr Verhalten dann endgültig festgelegt war und erstarrte. Bei Bienen und Ameisen gibt es keinen Irrtum mehr. Falls die Evolution sich in Richtung der Gleichheit bewegt, bin ich Reaktionär. Ein vor kurzem erschienenes Buch von Professor Hamburger scheint den Beweis führen zu können, dass das Ziel der Evolution die Verschiedenheit ist. Was mich betrifft, so scheint mir diese These etwas Tröstliches zu haben. Demnach wäre das Ziel der Evolution die Verwirklichung unendlich zahlreicher individueller Strukturen. Es würde sich also um eine wissenschaftliche Rechtfertigung des Individualismus handeln, und sie könnte uns helfen im Abwehrkampf gegen die kollektivistischen und totalitären Auffassungen von Gesellschaft.

Angeblich ist es nämlich so, dass die Tendenz zur Allgemeinheit und die Tendenz zur Besonderheit beide nebeneinander existieren können. Dass sie gleichermaßen kraftvoll sind und dass wir vielleicht noch die Freiheit haben, uns auf das eine oder auf das andere Ziel hin zu bewegen. Vielleicht hängt das nur von uns selbst ab. Das Gleichheitsideal ist eine sehr alte Versuchung, und wir finden es sogar in Platons ‚Staat‘. Immerhin räumt Platon gleichzeitig ein, dass eine Elitebildung und damit eine Ausbildung von Verschiedenheit sinnvoll ist. Es wäre sicher angebracht, wenn neue, antisozialistische Philosophien sich dem utopischen Gleichheitsdenken widersetzen könnten, einem Denken, das seit dem sechzehnten und dem siebzehnten Jahrhundert zu uns vorgedrungen ist und sich stark ausgebreitet hat. In Wirklichkeit sollten sich nämlich beide Tendenzen ausgleichen. Ursprünglich waren die Gleichheitsutopien darauf ausgerichtet, die Verschiedenheit in dem, was dir gehört und was mir gehört, abzuschaffen; was aus ihnen allerdings inzwischen geworden ist, ist etwas Anderes. Jetzt will man die Verschiedenheit zwischen dem Ich und dem Du, zwischen dir als Einzelwesen und mir als Einzelwesen abschaffen. Es hat sich also am Schluss herausgestellt, dass es diese Utopien gar nicht auf die Verschiedenheit des Habens abgesehen hatten, nein, sie wollten etwas unternehmen gegen die Verschiedenheit des Seins. Sie hatten es gar nicht auf den Klerus und seinen Besitz abgesehen, sie hatten etwas gegen Gott. Die Utopien sind dämonisch. Man nehme nur den Diktator: er wendet sich an das Kollektiv, Gott hingegen wendet sich an jeden Einzelnen von uns. Als Gesprächspartner hat er keineswegs alle Individuen, sondern jedes einzelne Individuum.

Der Lyriker Robert Desnos beklagte sich nach seiner Rückkehr aus Russland darüber, dass es dem Kommunismus nicht gelungen sei, die Angst vor dem Tod zu zerstören. Ich kann mich darüber nicht beklagen. Denn wenn man die Angst abschafft, schafft man auch die Hoffnung ab. Man schafft auch die Psychologie ab. Was eine Seele, eine individuelle Seele ausmacht, ist die Tatsache, dass sie zwischen Furcht und Hoffnung schwebt. Darauf gründet jegliches menschliche Verhalten. Es ist das, was den Menschen von anderen Geschöpfen unterscheidet. Den Menschen verändern heißt, ihn als das Wesen abschaffen, welches zu gleicher Zeit voll Furcht und voll Hoffnung ist. Die Utopien wollten den Menschen ändern; sie haben es nicht geschafft, nicht einmal in China; vielleicht werden sie es niemals schaffen. Vielleicht. Letztlich will man den Menschen seiner Natur, seiner geistigen Natur, berauben.

Falsch ist es zu glauben, dass der neue Mensch, auf den der Sozialismus hofft, der gleiche neue Mensch ist, den die Utopisten sich wünschen. Der neue Mensch, wie der Sozialist sich ihn vorstellt, ist kein gleichförmiger Mensch, es ist der heiliggesprochene Mensch. Nietzsche, der dem Christentum gegenüber so feindlich eingestellt war, hat vielleicht gar nicht richtig verstanden, dass der heiliggesprochene Mensch von seinem Übermenschen gar nicht so weit entfernt ist. Der utopische Mensch würde Angst und Hoffnung umbringen. Der heiliggesprochene Mensch überschreitet in der Hoffnung die Angst.“

Der fragwürdige Mensch, Ionesco Werke 6, C. Bertelsmann, Seiten 534-536

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