Tagebuch: In der Kollektivfalle ohne Erkenntnis
"Ich kann nicht verstehen, wie es kommt, dass Menschen sich seit Jahrhunderten und Aberjahrhunderten damit abfinden, unter so unerträglichen Verhältnissen zu leben oder zu sterben. Dass sie sich abfinden, mit dem Schreckgespenst des Todes im Kriege, in Schmerzen zu existieren, ohne wirklich laut und endgültig zu reagieren. Wie hat die Menschheit sich damit abfinden können, da zu sein, hingeworfen zu sein, ohne jede Erklärung? Wir sitzen in einer Art Kollektivfalle und lehnen uns nicht einmal ernsthaft dagegen auf. Keine Philosophie, keine Wissenschaft hat uns die Schlüssel des Rätsels geben können. Wir werden geführt, wir sind determiniert, wir werden wie Hunde an der Leine geführt. Seit Zehntausenden von Jahren wird die Menschheit genarrt.
Ich bin da, ich, ein Mensch, und ich muss das Unannehmbare hinnehmen: Ich will keinen Krieg, ich mache ihn mit; ich will wissen, ich weiß nichts. Und wenn ich schließlich diese Existenz, in die ich geworfen bin, zu lieben beginne, leide ich, weil sie mir wieder genommen wird. Ich besitze Kräfte, sie erschöpfen sich, ich altere, und ich will nicht altern, ich sterbe, und ich will nicht sterben. Das eben ist das Unwahrscheinliche: Eine Existenz zu lieben, die mir auferlegt worden ist und die mir in dem Moment genommen wird, in dem ich sie hingenommen habe. Achtzigjährige Greise sind glücklich zu leben. Zwanzigjährige junge Leute leiden unter der Last der Jahre. Seit Jahrtausenden und Aberjahrtausenden stellen wir dieselben Fragen, so oft, dass es lächerlich geworden ist, sie zu stellen, dass sie abgegriffen sind, bevor man auch nur die Ahnung einer Antwort bekommt. Die Menschen fangen an, ein winziges Stückchen Universum zu kennen, die Erde ist vom Mond aus fotografiert worden, die Menschen kennen die Gesetze der Physik und wissen, woraus sich der Kosmos chemisch zusammensetzt; wir haben bisher nur ein paar Lichter, um die tiefe Nacht der Psychologie zu erhellen; wir schauen durch das Fleisch hindurch; wir spalten die Materie, gewiss, gewiss, und so vieles andere, gewiss, gewiss. Die Wissenschaft ist nicht Erkenntnis; Rhetorik und Philosophie bestehen nur aus Wörtern, aus Folgen von Wörtern, aus Ketten von Wörtern, aber Wörter sind nicht das Wort. Wenn wir alles wissen werden oder wissen würden, wären wir der Erkenntnis noch immer nicht näher. Wer bringt dies alles in Bewegung? Was für ein Wesen steht hinter den Dingen? Das Universum erscheint wie ein in Unordnung oder vielleicht auch in Ordnung befindliches Sammellager, bewegliche Körper, die in den ungeheuren Raum geschleudert wurden; aber wer hat sie geschleudert, und was ist das, was ich Raum nenne, was mir als Raum erscheint? Doch selbst wenn ich eines Tages die Gesetze ihres Laufs, wenn ich die Regelung der Bewegungen kenne und weiß, wie über Wesen und Dinge verfügt wird und wie gewisse Mutationen, Transformationen und Befruchtungen vor sich gehen, selbst wenn ich alles das weiß, dann werde ich höchstens gelernt haben, mich mehr oder weniger gut in diesem riesigen Bagno, in dem erdrückenden Gefängnis, in dem ich lebe, zurechtzufinden. Was für eine Farce, was für eine Falle, was für eine Bauernfängerei! Wir sind als Betrogene geboren. Denn wenn man nicht erkennen darf, wenn man nicht erkennen kann, warum dann dieses Begehren nach Erkenntnis? ... "
Quelle: Eugène Ionesco, Tagebuch, Werke 5, Verlag Bertelsmann, S. 309-310, Übersetzung: Lore Kornell.