Der Einzelgänger
"Le solitaire" (übersetzt: Der Einzelgänger), veröffentlicht im Jahre 1973, ist der einzige Roman des Dramatikers Eugène Ionesco und sticht schon dadurch aus dem Gesamtwerk heraus. Die wenigen Erzählungen, die Ionesco in den Jahren zuvor veröffentlicht hat, waren sehr kurz, maximal einige zehn Seiten. "Der Einzelgänger" bringt es auf rund 160 Seiten.
Die Handlung
Die namenlose Hauptfigur macht als kleiner Angestellter ein beträchtliches Erbe, kündigt nach rund 15 Jahren den Job und zieht sich aus dem Leben weitgehend zurück. Es handelt sich um einen Mann von 35 Jahren. Er fristet sein Dasein in der Peripherie von Paris und verbringt seine Tage fortan zwischen Wohnung und Restaurant. Er ist immer wieder erstaunt über seine Mitmenschen, die weiterhin stets in Bewegung bleiben, kämpfen, lieben und glauben. Er beobachtet, er nimmt Notiz, aber er ist dennoch nicht Teil davon. Das macht ihn gleichwohl nicht weniger menschlich. Teilweise ganz im Gegenteil. Aber auch wenn er durchaus Versuche unternimmt, sich den Mitmenschen wieder etwas zu nähern, bleibt er über den ganzen Roman hinweg ein Einzelgänger. Am Ende erlebt die Hauptfigur eine Metamorphose seines Zimmers, seiner Umgebung. Er liegt auf dem Bett, wird von Licht durchdrungen und sagt nur noch "Ich sah das als ein Zeichen an."
Sind Sie sicher, dass Sie existieren?
– Die Hauptfigur im Restaurant zur Kellnerin
Kritik und Bewertung
Von der Kritik wurde Ionescos Roman zwischen Mittelmaß und Meisterwerk bewertet. Letzterer Bewertung schloss sich bspw. der Tagesspiegel an, was im Einband der deutschen Ausgabe des Verlags manholt aus dem Jahre 1994 nachzulesen ist:
"Mit seinem Misstrauen gegen Ideologien ist dieser Einzelgänger auch ein Einzelgänger in unserer literarischen Landschaft. Wie er sich in einer Welt voller Katastrophen bewegt, wie er Räume der Angst und des Todes tänzerisch durchschreitet, das hat die Sicherheit eines Clowns. Und wie in jeder großen Clownerie Komik und Tragik einander durchdringen, so verhält es sich auch hier. Das Lächerliche wird unsagbar traurig. In dieser geistigen Equilibristik ist Ionesco mit seinem Roman ein erzählerisches Meisterwerk gelungen."
Der manholt-Verlag beschreibt das Werk wie folgt:
"Der Einzelgänger ist eine echte Ionesco-Gestalt, scheu und melancholisch, geplagt von Gedanken über Gott und die Welt...hinter diesem anscheinend harmlosen und geruhsamen Leben lauert Unruhe, Lebensangst, Einsamkeit."
Eugène Ionesco selbst fühlte sich von der Kritik in jener Zeit, nachdem der Roman erschien, in eine Ecke gedrängt. Das führte dazu, dass er klarstellte, er sei nicht vom Leben angewidert, er verspüre keinen Ekel, er betrachte die Existenz nicht als überflüssig. In diesem Zusammenhang verweist Ionesco auf die Hauptperson seines einzigen Romans. Diese sei in permanenter Erwartung einer Erleuchtung, einer Enthüllung. Der Biograph André Le Gall deutet in seinem Werk über Ionesco an, dass ein davon abweichendes Signal möglicherweise durch die Inszenierungen von "Le solitaire" auf der Theaterbühne im November 1973 ausgelöst worden sein könnten. Nähere Quellen zu einer Aufführung des Romanstoffes sind allerdings nicht zu finden.
Claude Bonnefoy hat für die Erweiterung seiner Gespräche mit Ionesco 1977 viele kritische Stimmen zu Ionescos Roman zusammengetragen. Darunter die folgende von François Nourissier für 'Le Point':
"Denn es ist das Fundament der Eintönigkeit, in das er uns einführt, ohne uns zu warnen, dass es sich um die Nacht handelt. Plötzlich ein abrupter Bruch im Text, ein Geistesblitz, eine Drolligkeit, und der Leser sieht sich auf dem falschen Fuß erwischt. Man schwankt, für einen Moment verschlägt es einem den Atem. Dieser verwirrende Roman erwischt uns im Moment des geringsten Widerstands, in den er uns versetzt hat. Vielleicht wird man in einigen Jahren entdecken, dass es sich um ein Meisterwerk über die Krankheit unseres Jahrhunderts handelt. Für den Augenblick fällt es als Werk eines Dichters aus dem Rahmen."
Ionesco wurde von Ulrich Wickert in einem Interview gegen Ende der 80er Jahre auf das Thema Einsamkeit und Einzelgänger angesprochen. Dazu der Dramatiker:
"In der Einsamkeit finde ich den Menschen. In den Massen kann ich ihn nicht mehr finden. Es gibt Einzelgänger, die wirklich isoliert sind, und es gibt Pseudo-Einsame. Die wirklichen Einzelgänger sind in ständigem, mystischem oder realem Kontakt mit dem Universum. Ich versuche, ein wirklicher Einzelgänger zu sein, aber zwangsläufig bin ich es nicht. Ich stehe in Kontakt mit allen möglichen Welten, den Zeitungen und den Massenmedien. Gerade jetzt, in diesem Augenblick. Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas bewahren kann von dem, was mein Ich ist und was von mir übrig bleiben wird. Das, was auch die Anderen ausmacht, ihre eigentliche Tiefe. Denn, wie gesagt, das Ich ist letztlich nicht von den Anderen getrennt. Es begegnet den Anderen in sich selbst."