Die kahle Sängerin
"Die kahle Sängerin" (original: "La cantatrice chauve") ist in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderes Werk Eugène Ionescos:
1948/49 niedergeschrieben und am 11. Mai 1950 uraufgeführt, ist es Ionescos erstes Theaterstück.
Einige Kritiker ordnen das Stück als Ionescos bestes ein - trotz eines "Rhinocéros".
Der Einakter markiert die Geburtsstunde des absurden Theaters.
Ionesco selbst untertitelt sein Werk als "Anti-Stück".
"Die kahle Sängerin" legt den Grundstein für die weltweite Anerkennung, die Ionesco in den Jahrzehnten danach zuteil wird.
Das Stück wird Jahrzehnte lang und bis zur Corona-Pandemie ununterbrochen zusammen mit "La Leçon" im Théâtre de la Huchette aufgeführt, stellt damit weltweite Rekorde auf.
Aber was ist der Inhalt des Dramas, das es zu etwas so Besonderem macht?
Die Handlung
Es gibt im gesamten Stück nur sechs auftretende Personen: Das Ehepaar Smith, das Ehepaar Martin, das Dienstmädchen Mary und der Feuerwehrhauptmann. Bleibt festzuhalten: Die Titelheldin, also die kahle Sängerin, gehört nicht dazu. "Comme c'est curieux" (übersetzt: wie merkwürdig), würde es im Stück dazu heißen. Aber eine Erwähnung findet sie dann doch noch. Zum Ende der vorletzten Szene fragt der Feuerwehrhauptmann, was denn die kahle Sängerin mache. Nach einem betretenen Schweigen erhält er von Mrs. Smith die Antwort, sie habe noch immer die gleiche Frisur.
Darüber hinaus ist die Handlung schnell zusammengefasst. Das Ehepaar Martin besucht unangemeldet das Ehepaar Smith. Das Dienstmädchen stellt sich recht früh für ihre kleine Rolle äußerst prominent vor. Und auch ein Feuerwehrhauptmann gesellt sich dazu. Es entwickeln sich von Beginn an unlogische, an den Haaren herbeigezogene Dialoge zwischen den Beteiligten, die sich im Laufe des Stückes zu einem nicht mehr verständlichen Dialog- und Wortbrei auswachsen.
Deutung und Bedeutung
Eugène Ionesco hat das Stück auch als Parodie auf das Theater realisiert. Mit der Begründung des absurden Theaters sucht er ganz gezielt den radikalen Bruch des modernen Theaters mit seiner aristotelischen Vergangenheit.
Aber es war mehr als das. Ionesco, so wird man in den Jahren nach seinem ersten Stück noch sehen, ist ein Mann der Katastrophen. Und in "La cantatrice chauve" geht es für ihn auch darum. Im Interview mit Ulrich Wickert gegen Ende der 80er Jahre hat er sich dazu wie folgt geäußert:
"Da geht es auch um eine Katastrophe. Die Katastrophe der Sprache. Es treten Leute auf, die ganz ernst dasitzen und unsinniges Zeug reden, wie man es immer tut. Und plötzlich geraten die Wörter aus den Fugen, sie verrenken sich. Es geht um eine Verrenkung der Sprache, also um eine Art Verrenkung der Welt. Aber dieses Aus-den-Fugen-geraten der Sprache habe ich lustig beschrieben."
Anekdote zur Entstehung
Eine kleine Vorgeschichte zur Entstehung von "La cantatrice chauve" erzählt Eugène Ionesco 1962 in "Notes et contre-notes" (Argumente und Argumente). Er habe Englisch lernen wollen und sich mit banalen Lernphrasen beschäftigt. Dabei sei ihm in den Sinn gekommen, ein Theaterstück schreiben zu müssen. Weiter: "Dabei geschah etwas Seltsames. Der Text verwandelte sich vor meinen Augen, unmerklich und gegen meinen Willen. Die simplen und einleuchtenden Sätze, die ich mit so viel Fleiß in mein Schulheft übertragen hatte, begannen sich von ganz alleine zu bewegen; sie zersetzten und deformierten sich. Ich konstatierte eine Art Wirklichkeitszerfall. Die Worte waren nur noch hohle, sinnentleerte Schablonen, und auch die Personen hatten jedwedes Seelenleben verloren. Die Welt schien in bizarres Licht getaucht, vielleicht in ihr wahres Licht."