Die Nashörner
Im Jahre 1957 veröffentlichte Eugène Ionesco die Novelle "Rhinocéros" in der literarischen Zeitschrift "Les lettres nouvelles". Ein Jahr später schrieb der Dramatiker auf dieser Basis ein gleichnamiges Theaterstück, das am 6. November 1959 im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt wurde. "Rhinocéros", in Deutschland "Die Nashörner", hat sich im Laufe der Zeit und inbesondere im heutigen Rückblick nach weit mehr als einem halben Jahrhundert als das zentrale und möglicherweise bedeutungsvollste Werk Eugène Ionescos etabliert. Es wird auch heute noch in den Lehrstoff von Schulen aufgenommen und es wird immer wieder aufgeführt - weltweit. Auf der anderen Seite muss auch festgehalten werden: Es wird auch heute noch gerne falsch verstanden. Werfen wir also einen näheren Blick auf dieses Werk.
Die Novelle
In der Novelle erblicken der Erzähler und sein Freund Jean ein Nashorn in der Stadt. Sie diskutieren und streiten ein wenig über die Gründe für das Tier in der Stadt und mögliche Gefahren. Muss man etwas unternehmen? Schon bald wird es ernster: Die erste Katze wird zertrampelt. Es entstehen wilde Diskussionen in der Stadt. Manch einer ist verängstigt, andere wiederum nehmen es nicht ernst. Bis der erste Fall einer Verwandlung offenbar wird. Und bald ist auch Freund Jean ein Nashorn. Berichte von weiteren Verwandlungen kursieren. Die ganze Stadt scheint sich zu verwandeln. Am Ende scheint nur noch der Erzähler kein Nashorn zu sein. Er schaut in den Spiegel und sehnt es fast herbei, auch ein Nashorn zu werden. Denn allein dazustehen, so ganz anders, das machte im Grunde ihn zum Untier. Er schämt sich. Aber dennoch kann er nicht. Er kann sich nicht verwandeln.
Das Theaterstück
Das Theaterstück "Rhinocéros" hat Eugène Ionesco 1958 in drei Akten geschrieben. Während die zu Grunde liegende Novelle gerade einmal rund 20 Seiten umfasst, hat das Drama ungefähr die sechsfache Länge. Am Inhalt hat sich im Wesentlichen nichts geändert. Die Nashörner erobern peu à peu die gesamte Stadt. Das Ende bildet ein recht langer Monolog des Protagonisten Behringer (im Original: Bérenger), also des Erzählers in der Novelle, in dem er sich gegen die Verwandlung sträubt. Er beschließt, Mensch zu bleiben. Anders als in der Novelle, verschwindet seine Frau Daisy zuvor nicht einfach über Nacht. Im Theaterstück steht sie den Nashörnern mehr und mehr wohlwollend gegenüber. Während für Behringer die Nashörner schnauben, ist es für Daisy ein Singen. Die Meinungsverschiedenheit entzweit sie. Dadurch ist Behringer endgültig allein. Als Daisy Behringer vor dessen im Theaterstück sehr langem Schlussmonolog den Rücken kehrt, muss der Leser davon ausgehen, dass auch sie noch zum Nashorn werden wird.
Zielrichtung, Hintergrund und Fehlinterpretationen
Über die vielen Jahre, die dieses Stück aus der Feder Ionesos bereits in unseren Bibliotheken steht und auf unseren Bühnen aufgeführt wird, bleiben so einige Aussagen und Interpretationen in Erinnerung, die auf ein - manchmal möglicherweise auch gewolltes - Fehlverständnis zurückzuführen sind. Eugène Ionescos schrieb keine Stücke gegen Links, gegen Rechts, gegen Partei A, gegen Partei B etc. Seine Welt war nicht das Kleinkarierte. Ihn bewegte das Grundsätzliche. Als Themen seines Stückes könnte man recht kurz festhalten: Menschlichkeit, Konformismus, wobei sich Konformismus immer von einem Mangel an Menschlichkeit nährt. Das Kernthema ist also Menschlichkeit bzw. die Kehrseite: Entmenschlichung.
Im Nouvel Obervateur hat er am 25. Dezember 1982 in einem Interview mit dem Titel "Ionesco entre deux chaises" ("Ionesco zwischen zwei Stühlen") auf die Anmerkung reagiert, er habe den Ruf, feindselig gegenüber dem Sozialismus zu sein:
Wenn ich jemals feindselig war, dann gegenüber der Dummheit und gegenüber der Verletzung von Menschenrechten.
Im Weiteren deutet er an, dass dies seinen Ursprung etwas weiter zurück in seiner Biographie habe. Er führt weiter aus:
"Als ich mit 13 Jahren nach Rumänien zurückkehrte, um dort zu leben, war mein erster Kontakt mit der politischen Realität, mit anzusehen, wie ein Offizier des Königs Karl II. einen Bauern ohrfeigte, der seinen Hut nicht vor der Fahne des Landes abnahm. Ich habe seitdem eine unumkehrbare Abscheu, ein instinktives Misstrauen gegenüber jedwedem Ort der Beflaggung. Anschließend habe ich den Aufstieg des Nazismus erlebt. Ich habe junge Menschen meines Alters gesehen, die sich gewissenlos und überschwänglich der Eisernen Garde angeschlossen haben. Sie warfen die jüdischen Studenten aus den Fenstern der Medizinfakultät. Auf der Straße zwangen sie Menschen mit größeren Nasen, ihre Hosen herunterzuziehen, um zu sehen, ob sie beschnitten sind. In meiner eigenen Familie schlug man die Hausangestellten. Und wieviele Male habe ich meinen Vater das Dienstmädchen ohrfeigen sehen. Also, wenn Sie wollen, dass wir über meine politischen Überzeugungen reden, müssen wir da anfangen:
Aus diesem Zoo stammt mein Rhinocéros.
Auch die dann folgenden Worte sind für das Verständnis der Ursprünge des Werks sehr wertvoll:
"Und es war in diesem Vorkriegs-Rumänien, dass ich lernte, wie Menschen zu Tieren wurden. Einige meiner Freunde beispielsweise waren gegen die Garde de Fer (Eiserne Garde), gegen den Nazismus, aber sie ließen sich infizieren, ohne sich dessen bewusst zu werden. Und das fing so an: 'Ihr habt Recht', sagte einer von ihnen, 'die Eiserne Garde, der Nazismus, das ist schändlich.' Aber eines Tages fügte er hinzu: 'Abgesehen davon, die Juden übertreiben. Haben sie nicht überall in der rumänischen Wirtschaft ihre Hand im Spiel?'
"Und von da ab wusste ich, dass sie verloren sind. Ich wusste, dass sie Stück für Stück zum Nashorn werden und dass alle Parolen der Eisernen Garde die ihren werden. Es ist immer auf diese Weise geschehen. Es geschieht immer auf diese Weise."
Und Eugène Ionesco gibt im gleichen Gespräch auch eine Erklärung dafür, wie "Rhinocéros" endet:
"Im Rumänien jener Zeit realisierte ich, dass die Barbarei immer eine konsistente Maschinerie war. Verstehen Sie recht: Alle wurden Nazi, die Intellektuellen, die Lehrer, die Zeitungen, die Menschen auf der Straße. Es gab eine neue Wissenschaft, eine neue Biologie, eine neue politische Ökonomie, eine neue Moral, und ich sagte mir: 'Wie konnte ich gegen die ganze Welt Recht haben?' Ich dachte, ich würde verrückt. Als ich selbst nach Frankreich flüchtete und Individuen traf, die ähnlich verrückt wie ich waren, schwächte sich diese Seelenqual etwas ab. Aber wenn ich da drüben geblieben wäre, wäre ich verloren gewesen, ganz sicher. Das ist der Grund, warum meine Hauptfigur in Rhinocéros am Ende lamentiert: 'Ich wäre gerne wie sie...' Ja, es ist genau das: Die überlegene Bauernschläue des kollektiven Wahns. Sie überzeugen dich, dass der Anormale nur jener ist, der sich dem Wahn der Anderen vergeblich zu widersetzen versucht. Man wird den totalitären Mechanismus niemals verstehen, wenn man nicht von Folgendem ausgeht:
Die Menschen haben selten die Kraft, dauerhaft allein dazustehen.