André Le Gall: Ionesco
Im Jahre 2009 wäre Eugène Ionesco 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass gab es nicht nur vom 6. Oktober 2009 bis zum 3. Januar 2010 eine große Sonderausstellung der Bibliothèque nationale de France, sondern endlich auch eine neue und ziemlich umfassende Biographie. Das 619 Seiten umfassende Werk von André Le Gall ist in vielerlei Hinsicht besonders. Im Einzelnen:
Verarbeitung neuer Erkenntnisse und Quellen: Man merkt der Biographie an vielen Stellen an, dass es sehr tiefgründig recherchiert ist. Neben den Tagebüchern und sonstigen Veröffentlichungen Eugène Ionescos greift es auch auf Quellen bswp. von Weggefährten zurück - insbesondere für ein möglichst stimmiges Bild über die relativ schwierig recherchierbaren Zeiten rund um den zweiten Weltkrieg. Auch die Ahnenforschung scheint auf einem neuen Niveau zu sein. Ob dies auf die neuen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation zurückgeht, auf die Zugänglichkeit von Archiven nach dem Fall des eisernen Vorhangs, auf die gute Vernetzung des Autors oder einfach auf akribische Recherche des Autors, ist schwer zu sagen.
Eine Biographie mit Theatersequenzen: Schwierig zu bewertende Passagen im Leben des Eugène Ionesco werden als kleines Theaterstück mit drei Beteiligten vermittelt: "Der Redner", "Der externe Diskussionsteilnehmer" und "Eugène Ionesco". Mit diesem Stilmittel vermeidet der Biograph eine möglicherweise zu sehr moralisierende und zu einseitig empfundene Prosa. Und er nimmt sich als Biograph ein Stück aus der Diskussion heraus.
Keine gänzlich lineare Darstellung: Zugegeben, dieser Punkt macht das Werk für den Leser etwas anstregender in der Aufnahme. Nicht nur durch die o.g. Theatersequenzen, sondern auch zu besonderen Aspekten im Leben des Eugène Ionesco macht der Biograph sehr ausgiebige Einschübe. Gerade, wenn man nicht so tief in der Materie steckt und insbesondere durch die hohe Zahl an genannten Personen vielleicht einen Moment der Überforderung spürt, droht einen so ein Einschub gänzlich abzuhängen. Es erfordert wirklich viel Konzentration, den Faden nicht zu verlieren. Möglicherweise fällt dieser Aspekt stärker ins Gewicht, wenn man die Biographie - so wie der Autor dieser Website - in einer Fremdsprache liest.
Kommt dem Anspruch an eine wissenschaftliche Arbeit sehr nah: Man hat während der Lektüre der Biographie den Eindruck, dass sehr gewissenhaft mit Quellen umgegangen wird. So hat man ziemlich schnell den Eindruck, dass dieses Buch kein Pamphlet, sondern eher eine wissenschaftliche Abhandlung ist. Die schwierig zu bewertende Verlässlichkeit bestimmter Quellen wird sehr früh angemerkt. Und insbesondere in der E-Book-Variante der Biographie ist die Lektüre der Fußnoten im direkten Zusammenhang ein echter Gewinn für den interessierten Leser.
Der Inhalt der Biographie gliedert sich wie folgt:
- Images d'enfance et d'extrême enfance
- Premier épisode roumain
- Solstice d'été
- Douleurs roumaines
- Second épisode roumain
- Les chaises vides
- L'ascension du Mont Parnasse par la face de l'avant-garde
- Apothéose d'Eugène Ionesco
- Bérenger sur la place
- Contre la montre
Über den Autor
André Le Gall, geboren am 25.12.1936, ist ein französicher Romanautor, Essayist und Dramatiker. Er hat die französische Eliteschule für öffentliche Verwaltung (ENA) absolviert. Er ist seit Jahrzehnten als Autor tätig und hat bis heute zwei Romane, einige Essays und Biographien sowie im Wesentlichen Theaterstücke geschrieben. In der vorliegenden Biographie wird also das Leben eines Dramatikers durch die Augen eines Dramatikers betrachtet.
Einordnung und heutige Bedeutung
Die Biographie "Ionesco" von André Le Gall ist wohl die bis heute umfassendste, detaillierteste und auch genaueste Darstellung von Leben und Werk des großen Dramatikers. Es geht auch menschlich in die Tiefe und schneidet pikante Fragen an, ohne zu moralisieren. Dadurch liefert es nicht einfach Antworten, sondern überlässt das Denken dem Leser. Das wäre wohl auch im Sinne des Eugène Ionesco gewesen.
Das biographische Werk ist 2009 in einer Zeit erschienen, in der abgesehen von der Publikation zur Sonderausstellung der Bibliothèque nationale de France kaum noch neue Publikationen über Eugène Ionesco entstehen. Und es ist kaum anzunehmen, dass sich in naher Zukunft daran etwas ändern wird. Somit ist davon auszugehen, dass die vorliegende Biographie von André Le Gall längere Zeit als Standardwerk für die Befassung mit Eugène Ionesco dienen wird.
Die Biographie ist über den französichen Buchhandel in französischer Sprache zu erwerben. Die E-Book-Variante hat man leider nur für das geschlossene System des Amazon Kindle realisiert. Die EPUB-Variante für die offeneren Systeme ist bis dato nicht anzutreffen. Zudem ist aus Sicht des deutschsprachigen Raumes zu bedauern, dass es keine deutsche Übersetzung gibt. Auch über eine englische Übersetzung ist dem Autor dieser Website nichts bekannt. Da die Werke Eugène Ionescos noch heute weltweit Interesse finden und auch aufgeführt werden, ist zu hoffen, dass am digitalen Format der Biographie noch einmal gearbeitet und eines Tages noch in andere Sprachen übersetzt wird.